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Theater
Mo., 13. August 2012
Veröffentlicht in der gedruckten Ausgabe der Badischen Zeitung.
von: Roswitha Frey

Fantasiemächtige Kräfte

Erzählmarathon der Schwestern Grimm beendet Saison im Theater im Hof in Kandern-Riedlingen.

Zwei Schwestern Grimm

Die Schwestern Grimm: Katharina Ritter (links) und Gabi Altenbach
Foto: Frey

"Spieglein, Spieglein, an der Wand ...", "Ruckedigu, Blut ist im Schuh ...", rappen die Schwestern Grimm munter drauflos. Die eine trägt lange schwarze Zöpfe und ein T-Shirt, auf dem "Trine" steht, die andere einen kecken Pferdeschwanz und ein T-Shirt mit dem aufgedruckten Namen "Else". Über ihnen prangt als überdimensionale Kulisse das goldgerahmte Porträt der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, die vor 200 Jahren Märchengeschichten gesammelt haben. Die Schwestern Grimm: Das sind die professionellen Erzählerinnen Katharina Ritter und Gabi Altenbach, die zum Saisonabschluss im "Theater im Hof" in Riedlingen acht Stunden lang 44 Grimmsche Märchen erzählten, vom sonnig heißen Frühnachmittag bis fast um Mitternacht, als der Hof in atmosphärisches Bühnenlicht getaucht war – ein Märchenmarathon, der den Zuhörern sehr kurzweilig vorkam, weil die Stunden durch die lebendige, freie, aufregend spannende Erzählweise der Schwestern Grimm wie im Flug vergingen.

Wollten sie alle 200 Märchen der Grimms erzählen, bräuchten sie dafür vier Tage. Also haben sie die ersten 44 aus der Sammlung der "Kinder- und Hausmärchen" ausgewählt, die sie der Reihe nach frei erzählen, "ein Viertel Grimm" – aber wie! Vergessen Sie alle Märchentanten! Wer Katharina Ritter und Gabi Altenbach erlebt hat, tauchte ganz anders, erfrischend neu in die Geschichten von Rapunzel, Aschenputtel, Rotkäppchen, dem Froschkönig oder Frau Holle ein. Neben diesen Klassikern hörte man auch weniger bekannte Geschichten der Sammlung, schräge, skurril-groteske, schauerliche aus der Erstausgabe, etwa "Wie die Kinder Schlachtens gespielt haben". In diesem schaurigen Metzgerspiel gibt es mehr Leichen als in jedem Tatort-Krimi.

Überhaupt wimmelt es bei diesem Erzählmarathon nur so von grausamen Stiefmüttern und niederträchtigen Stiefschwestern, die den guten, fleißigen Mädchen das Leben schwer machen und wie alle Bösen im Märchen die gerechte Strafe kriegen – wie die faule Tochter in "Frau Holle", die mit Pech überschüttet wird, oder die Stiefschwestern von Aschenputtel, denen die Tauben die Augen aushacken. Die Guten aber kriegen die Königssöhne, "lebten ein langes und vergnügtes Leben" und für die Armen gibt es "nie mehr Kummer und Not". Die Inszenierung mit Märchen-Rap und Luftballons ist überaus einfallsreich. Farbige Luftballons, an Holzscheiten festgemacht, sindnach den jeweiligen Märchen nummeriert und füllen nach und nach das Bühnenpodest, auf dem ein einfacher Schemel mit Ausgaben der Grimm-Bücher steht. Immer zur vollen Stunde geht es los mit einem Erzählblock, im fliegenden Wechsel lösen sich die beiden Künstlerinnen ab. Am roten Faden der Handlung entlang erzählen sie die Märchen im

eigenen Stil neu, mal enger am Original, mal weiter weg, auch sprachlich der heutigen Zeit angepasst. Am Inhalt wird nichts geändert, aber sprachlich, gestisch, mimisch, schauspielerisch werden Freiräume fantasievoll gefüllt, bekommen die Figuren ein Gesicht, einen Charakter. Ab und zu wird auch mal im Dialekt erzählt, was eine andere Färbung einbringt, umgangssprachlicher, direkter, auch deftiger klingt. So erzählt Katharina Ritter die Mär vom "Fischer un syner Fru", die bei Grimm in Plattdeutsch geschrieben steht, im Vorarlberger Alemannisch.

Abwechslungsreich und jede Minute spannend wie ein Kinofilm im Kopf ist dieser lange Erzählreigen auch, weil die Erzählerinnen eine unterschiedliche Art und Weise haben, die Geschichten auf die Bühne zu bringen. Katharina Ritter, die "Trine" mit den Zöpfen, agiert schauspielerisch, setzt lustvoll und ausgiebig Mimik, Gestik, Rollenspiel ein, variiert die Stimme, verwandelt sich in Nullkommanichts mit verzerrten Zügen in die furchterregende, krummbucklige, scheußliche Hexe aus "Hänsel und Gretel". Wenn es die Frau in "Rapunzel" nach Rapunzelsalat gelüstet, dann futtert Katharina Ritter wirklich Feldsalat. Bildmächtig imitiert sie die Flügelschläge der verwunschenen Raben und erzeugt atemlose Spannung mit der abgründigen Geschichte von der Grabkammer und den Schlangenblättern, die Tote zum Leben erwecken. Gabi Altenbach, die Kecke mit dem "Else"-T-Shirt, hat einen anderen Erzählstil, sie reagiert spontan und schlagfertig auf den Ort, die Situation. Sie improvisiert auch mal, lässt manche Pointen spontan auf der Bühne entstehen und erzählt humorvoll, direkt und so plastisch, dass man den gefräßigen Wolf aus "Rotkäppchen" oder die um sich schlagenden Riesen, den wütenden Eber und das gefährliche Einhorn, mit denen es das mickrige Schneiderlein aufnimmt, vor sich hat.

Beim abendlichen Erzählblock tragen die Erzählerinnen schwarze Kleider, die Bühne ist in der Dämmerung und einsetzenden Dunkelheit stimmungsvoll beleuchtet. Im Publikum sitzen nun ausschließlich Erwachsene, die sich gefangen nehmen lassen von der fantasiemächtigen Kraft und Leidenschaft des mündlichen Erzählens – und von fantastisch-skurrilen Geschichten wie der vom Mäuschen, Vögelchen und der Bratwurst, die in einer WG zusammenleben. Am Ende der langen Erzählnacht wartet der "Gevatter Tod" in der Geschichte von dem jungen Mann, der den Tod als Taufpaten und ein Stück weit Macht über Leben und Tod bekommt. Und zum Schluss werden die Luftballons frei gelassen und steigen in den Riedlinger Himmel ...